Redebeitrag von Jürgen Wagner am 9.8.25 in Frankfurt
Jürgen Wagner ist Geschäftsführer der Informationsstelle Militarisierung e.V. in Tübingen.
Aktuelle atomare Bedrohungen – 80 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki
Liebe Freundinnen und Freunde,
Der heutige Tag dient dem Gedenken an die Opfer der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Er ist aber auch eine Mahnung, dass alles getan werden muss, damit sich so eine Katastrophe niemals wiederholt. Doch heute sind wir in einer Situation, in der das Tabu eines Atomwaffeneinsatzes so sehr unter Druck steht, wie wohl noch nie zuvor.
Das atomare Säbelrasseln nimmt ständig zu und wir stehen an der Schwelle zu einem völlig entsicherten nuklearen Wettrüsten durch die USA, Russland und China. Und auch die Bundesregierung ist dabei alles andere als hilfreich – im Gegenteil.
Und auch deshalb sind wir heute hier, um zu fordern, dass dieses Würfelspiel mit der Katastrophe ein Ende hat.
Das einzige, was aktuell noch zwischen uns und einem neuen nuklearen Wettrüsten steht, ist der New-Start-Vertrag: Er begrenzt die strategischen Waffen der USA und Russlands auf 1.550 Sprengköpfe und 800 Trägersysteme. Dieser Vertrag steht kurz vor dem Kollaps, was eng mit dem Ende eines zweiten Rüstungskontrollvertrages und den aktuellen Plänen zur Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland verknüpft ist.
Das alles hat eine Vorgeschichte, die mindestens zu den damaligen Stationierungen von Mittelstreckenwaffen in Deutschland in die späten 1970er und frühen 1980er zurückreicht. Es war auch ein Verdienst der Massenproteste der Friedensbewegung, dass es 1987 zum INF-Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion kam. Er Verbot die Entwicklung, Produktion und Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenwaffen (Reichweite 500km bis 5.500km). Dabei handelte es sich um eine historische Errungenschaft: Eine ganze Waffengattung – mit die gefährlichste – verschwand damit von der Bildfläche.
Diese Waffen blieben verboten, bis die USA sich im Februar 2019 entschieden, den INF-Vertrag zu kündigen. Begründet wurde der Ausstieg damit, Russland habe zuerst mit seinem Marschflugkörper 9M729 den Vertrag verletzt. Russland erwiderte, der Marschflugkörper habe nicht – wie von der NATO behauptet – eine Reichweite von 2.500km, sondern von 480km und bot Vor-Ort-Inspektionen an, um die strittigen Fragen zu klären.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Verifikationsexperten geben an, mit solchen Inspektionen wäre zweifelsfrei beweisbar gewesen, ob eine Vertragsverletzung vorgelegen hätte oder nicht. Und was wurde getan? Der Westen lehnte dieses Angebot, wie auch spätere russische Vorschläge für ein Moratorium auf die Stationierung von Mittelstreckensystemen, rundweg ab. Trotzdem kündigte Russland zunächst an, sich an dieses Moratorium zu halten.
Russland sei nicht zu trauen, war die lapidare Begründung.
Liebe Freundinnen und Freunde,
das mag schon sein – und es mag ebenfalls sein, dass Russland eine Vertragsverletzung begangen hat. Aber es ist nicht akzeptabel, dass das Angebot, die strittigen Fragen aus dem Weg zu räumen, fahrlässig ausgeschlagen wurde.
Schlimmer noch, es deutet einiges darauf hin, dass dies mutwillig geschah. Das ganze stank damals schon zum Himmel: Schon im März 2019 wurde gemeldet, die USA hätten mit der augenscheinlich schon lange vorbereiteten Produktion von Mittelstreckensystemen begonnen.
Ein nächster wichtiger Schritt war im September 2021 die Aktivierung der europäischen Multi Domain Task Force (MDTF) mit Sitz in Wiesbaden. Dabei handelt es sich um teilstreitkräfteübergreifende Einheiten, denen genau solche Mittelstreckensysteme zugeordnet sind, die nun auch in Deutschland stationiert werden sollen. Im November 2021 wurde dann noch das 56. Artilleriekommando reaktiviert: Der Schritt war symbolträchtig, handelt es sich dabei um das Kommando, das zu Zeiten der Nachrüstung für die Pershing-II zuständig war und dann bis kürzlich außer Dienst gestellt wurde.
Liebe Freundinnen und Freunde,
trotzdem wurde uns in mehreren Anfragen im Bundestag und im Hessischen Landtag gesagt, niemand habe die Absicht, in Deutschland Mittelstreckenwaffen zu stationieren… Bis in einer gerade einmal vier Sätze langen deutsch-amerikanischen Erklärung am 10. Juli 2024 angekündigt wurde, dies ab 2026 eben doch tun zu wollen.
Geplant sind drei Systeme:
a) Standard Missile (SM) 6: Wahrscheinlich in der Variante 1b mit einer Reichweite von 1.600km Kilometern und Hyperschallfähigkeit (>6.200km/h);
b) Tomahawk-Marschflugkörper: Extrem manövrierbar und damit schwer abzufangen. Reichweiten je nach Variante 1.700 – 2.500km bei 900 km/h;
c) Hyperschallwaffe Dark Eagle: Reichweite 2.700-3.000km, Tempo bis zu Mach 17 (21.000km/h).
Und jetzt sagen sie uns, das sei alles halb so wild, weil es sich um konventionelle und nicht atomare Systeme handele. Aber diese Waffen sind heute zielgenauer und zerstörungsfähiger als die atomaren Waffen während der Nachrüstung. Und sie können damit nuklearrelevante Ziele mit hohem Tempo sowie großer Manövrierfähigkeit und Präzision tief im russischen Raum einschließlich Moskau ins Visier nehmen.
Dies sei eine „Fähigkeitslücke“, die geschlossen werden müsse, so die zentrale Begründung – doch das kann die NATO bereits heute, nämlich mit Mittelstreckenwaffen auf Schiffen und Flugzeugen. Und hier gibt es tatsächlich eine Fähigkeitslücke: nämlich 1800 zu 3000. Das ist die Zahl der in Europa stationierten Waffen zum Zeitpunkt der Stationierungsankündigung im Juli 2024 – aber zugunsten der NATO.
Die bisherigen Waffensysteme haben aber den „Nachteil“, dass sie zu langsam für Überraschungsangriffe sind – Russland bliebe bei einem Angriff Zeit für die Verifikation, Lagefeststellung und für einen Gegenschlag. Und genau das ist augenscheinlich die Fähigkeitslücke, die mit den extrem schnellen Landsystemen behoben werden soll. Um es klar zu sagen: diese Waffen haben mit „Abschreckung“ oder „Verteidigung“ rein gar nichts zu tun – und Stationierungsbefürworter geben das auch offen zu:
In einem breit beachteten Handelsblatt-Beitrag machte voriges Jahr zum Beispiel Claudia Major, damals für die regierungsberatende „Stiftung Wissenschaft und Politik“ tätig, aus dem offensiven Charakter dieser Waffen überhaupt kein Hehl:
„Die Tomahawks sollen bis zu 2.500 Kilometer weit fliegen können, könnten also Ziele in Russland treffen. Und ja, genau darum geht es. […] So hart es klingt. Im Ernstfall müssen NATO-Staaten auch selbst angreifen können, zum Beispiel, um russische Raketenfähigkeiten zu vernichten, bevor diese NATO-Gebiet angreifen können, und um russische Militärziele zu zerstören, wie Kommandozentralen.“
Und Jonas Schneider und Oberst Torben Arnold ebenfalls von der Stiftung Wissenschaft und Politik schrieben:
„Nicht nur die LRHW, auch die SM 6-Version der Army fliegen mit über fünffacher Schallgeschwindigkeit und sind im Zielanflug manövrierbar. Daher sind sie hocheffektiv gegen mobile Ziele und sehr schwer abzufangen, selbst für moderne Raketenabwehr. Die Dark Eagle ist mit bis zu 17-facher Schallgeschwindigkeit kaum zu stoppen. Mit dieser hohen Eindringfähigkeit sind beide Waffen ideal, um auch solche russischen Hochwertziele auszuschalten, die gezielt geschützt werden.“
Liebe Freundinnen und Freunde,
„hocheffektiv“, „schwer abzufangen“, „kaum zu stoppen“ gegen „Hochwertziele“.
Ob nuklear oder nicht: Aus russischer Sicht handelt es sich damit völlig nachvollziehbar um strategische Offensivwaffen. Und es wurde schon lange davor gewarnt, dass Russland Gegenmaßnahmen ergreifen wird, was nun geschehen ist.
Am 19. November 2024 wurde eine neue russische Nukleardoktrin verabschiedet, in der die atomare Einsatzschwelle aufgrund der kurzen Vorwarnzeiten deutlich abgesenkt wurde – salopp gesagt kann nun früher auf Verdacht geschossen werden. Wie soll uns das sicherer machen?
Und auch das INF-Moratorium, an das sich Russland – aus seiner Sicht zumindest – bislang gehalten hat, ist inzwischen Geschichte: Am 21. November griff Russland mit einer landgestützten Mittelstreckenrakete („Oreschnik“) Ziele in der Ukraine an. Damals wurde dies noch zynisch als „Test“ bezeichnet, um anzudeuten, Russland sei weiter zu einer Wiedereinführung des INF-Vertrages bereit. Doch jetzt erst vor wenigen Tagen wurde gemeldet, das Land sehe sich nicht mehr an das Moratorium gebunden und es bebasichtige die großflächige Stationierung von Mittelstreckenwaffen. Wie soll uns das sicherer machen?
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich habe es gesagt, die zentralen Einheiten dieser Waffensysteme haben ihren Sitz in Wiesbaden, die Waffen sollen wahrscheinlich in Grafenwöhr stationiert werden. Und die übergeordnete Kommandozentrale ist das EUCOM mit Sitz in Stuttgart-Vaihingen. Als zentraler Stationierungsort im neuen Raketenschach rückt Deutschland damit zwangsläufig auch ins Visier der russischen Planungen.
Auch das ist jetzt nicht unsere Privatmeinung in der Friedensbewegung. Genauso schätzt das zum Beispiel Oberst a.D. Wolfgang Richter ein:
„Wenn es zu einem Konflikt mit Russland kommt, wird man natürlich versuchen aus russischer Sicht diese Waffen zunächst einmal als Ziele auszuschalten. […] Es gibt ja Kommandobehörden, die sogenannte Multi Domain Task Force hat ihren Sitz bereits in […] Wiesbaden und das ist dann natürlich ein erstrangiges Ziel.“
Liebe Freundinnen und Freunde,
dass dies alles ohne vorherige parlamentarische oder öffentliche Debatte geschah, setzt dem ganzen dann noch die Krone auf.
Allerdings gibt es jetzt eine neue Entwicklung, die eigentlich positiv sein könnte: Die Stationierungen wurden unter US-Präsident Joseph Biden beschlossen. Unter seinem Nachfolger Donald Trump findet aktuell eine Überprüfung statt und womöglich wird die Entscheidung wieder einkassiert. Um nun ganz sicher zu gehen, an diese Waffensysteme zu gelangen, hat Bundesregierung kürzlich angekündigt, das Startsystem Typhon für Tomahawk-Marschflugkörper und SM-6-Raketen von den USA erwerben zu wollen. Gleichzeitig wurde mit der Entwicklung einer eigenen europäischen landgestützten Mittelstreckenwaffe begonnen (ELSA).
Liebe Freundinnen und Freunde,
dies zeigt vor allem eins: Die USA sind nicht das einzige, womöglich nicht einmal das primäre Problem. Ganz wesentlich ist hier die Bundesregierung, die augenscheinlich unbedingt an derlei Waffen gelangen will.
Ganz ähnlich läuft es im Bereich der Nuklearbewaffnung: Im Rahmen der Nuklearen Teilhabe werden u.a. die in Deutschland lagernden 10-15 US-Atomwaffen „modernisiert“ (d.h. zielgenauer und durchschlagskräftiger gemacht). Und es werden sündhaft teure F-35 Flugzeuge (~10 Mrd. Euro) als Trägersysteme angeschafft und der Flughafen Büchel erweitert, dessen Kosten praktisch minütlich ansteigen: jetzt schon von 600 Mio. auf 2 Mrd. Euro.
Weil man den USA aber nicht mehr über den Weg traut, wird nun in Deutschland gleichzeitig lautstark über europäische Atomwaffen spekuliert. Und selbst die Rufe nach deutschen Atomwaffen werden lauter.
Liebe Freundinnen und Freunde,
vor nicht allzu langer Zeit hätte ich es mir nicht träumen lassen, dass der 2+4-Vertrag offen infrage gestellt werden könnte, weil er eine deutsche Atombewaffnung verhindert.
Doch dies geschah unter anderem am 24. März 2025 in der FAZ:
„Wollte also Deutschland eigene Atomwaffen entwickeln oder erwerben oder die Bundeswehr, sagen wir, wieder auf 500.000 Soldaten aufstocken […], so brauchte es die Zustimmung der USA, Großbritanniens, Frankreichs – und Russlands.“
Die Einhaltung internationaler Verträge sei prinzipiell schon wichtig, die Umstände hätten sich jedoch geändert, weshalb:
„Eine Bindung freilich, die dem Land schadet oder nur einem Gegner und bisherigem Vertragspartner dient, kann keinen Bestand haben.“
Dass Deutschland auch Mitglied des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags ist findet nicht einmal eine Erwähnung.
Das nächste Opfer all dieser Entwicklungen dürfte der New-Start-Vertrag sein, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht verlängert wird. Damit stünde die Welt ab Februar 2026 ohne vertragliche Einschränkung eines nuklearen Wettrüstens da. In einem ersten Schritt ist damit zu rechnen, dass die USA und Russland ihre tausende eingelagerten Sprengköpfe dann wieder montieren.
Liebe Freundinnen und Freunde,
wenn ich mir das alles so anschaue, dann gibt es tatsächlich eine eklatante Fähigkeitslücke: Nämlich die Unfähigkeit (oder der Unwille) unserer Politik Auswege aus der Eskalationsspirale zu finden. Es gibt eine Fähigkeitslücke, kritischen Stimmen zuzuhören. Es gibt eine Fähigkeitslücke, sich auf die Instrumente früherer Zeiten zu besinnen, die geholfen haben Gefahren halbwegs einzudämmen: Rüstungskontrolle, Transparenz, vertrauensbildende Maßnahmen
Liebe Freundinnen und Freunde,
das sind die Fähigkeitslücken, die dringend behoben werden müssen!