Redebeitrag auf Gaza-Kundgebung vom 12.11.2023
von Matthias Jochheim
Liebe Mitbürger, liebe Friedensfreundinnen und -Freunde,
aus den Medien empfangen wir in diesen Tagen grauenvolle Nachrichten und Bilder aus Gaza.
2011 hatten wir das von der anglikanischen Kirche getragene Al-Ahli-Arab-Krankenhaus in Gaza besucht, und mit der sehr engagierten Verwaltungschefin und dem Chefarzt über die Schwierigkeiten gesprochen, unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Blockade eine so wichtige Einrichtung zu betreiben. Nun mussten wir aus den Medien erfahren, dass das Hospital bei einem Raketeneinschlag schwer beschädigt wurde, und dabei Hunderte von Menschen starben.
Die Bilanz nach fünf Wochen der militärischen Intervention durch die israelischen Streitkräfte, von medico international veröffentlicht, ist entsetzlich: Fast 11.000 Menschen sind bei israelischen Angriffen getötet worden, etwa 68 Prozent davon Frauen und Kinder. Schätzungsweise 2.650 Menschen gelten als vermisst, auch davon etwa 1.400 Kinder. Die meisten dürften unter den Trümmern ihrer Häuser begraben liegen. In keinem Konflikt weltweit haben die Vereinten Nationen bisher so viel Personal verloren wie in Gaza: 100 Mitarbeiter:innen kamen bei den Angriffen seit dem 7. Oktober ums Leben. 750.000 Bewohner, also rund ein Drittel der Bevölkerung mußten fluchtartig ihre Häuser verlassen. Durch massive Bombardements sind mehr als 30% der Gebäude im Norden des Gazastreifens weitgehend zerstört. Die Lieferung von Lebensmitteln, Medikamenten, ja sogar von Trinkwasser, auf die die Gaza-Bevölkerung existentiell angewiesen ist, wurde durch Israel eingestellt, und nur ganz unzureichend über den Grenzübergang Rafah durch Ägypten übernommen. Treibstoff etwa für Krankenwagen und für die Energieversorgung zum Beispiel der Krankenhäuser wird überhaupt nicht mehr geliefert. Das größte Krankenhaus, das Al-Shifa-Hospital, mußte seinen Betrieb jetzt einstellen, ebenso wie schon jetzt 20 der insgesamt 36 Hospitäler im Gaza-Streifen. – Eine solche Kriegsführung, die von der Tendenz her der Zivilbevölkerung ein Überleben auf Dauer unmöglich macht, verletzt massiv das humanitäre Völkerrecht – wenn das nicht beendet wird, ist die Folge ein Genozid, ein Völkermord.
Wir wollen den Anlass für die israelische Kriegsführung in Gaza nicht vergessen: es war das Massaker , welches unter israelischen Bewohnern in der Nähe des Gaza-Streifens am 7.Oktober angerichtet wurde, die meisten von ihnen unbewaffnete Zivilisten und darunter auch viele Kinder. Bewaffnete Mitglieder von Hamas und anderen militanten Gruppen waren aus dem eigentlich hermetisch abgeriegelten Gaza-Gebiet ausgebrochen. Etwa 1200 israelische Menschen wurden dabei umgebracht – auch dies ein grauenhaftes Verbrechen. Ich halte die Forderung für berechtigt, dass sowohl das Gemetzel auf israelischem Gebiet, als auch die Folgen des Angriffs gegen Gaza von einer unabhängigen, internationalen Kommission untersucht werden.
Gleichzeitig hören wir von zunehmender Gewalt militanter Siedler im Westjordanland: bis 7.Oktober, dem Überfall der Gaza-Militanten waren in diesem Jahr bereits 375 Palästinenser in der Westbank getötet worden, seit 7.10. dann schon weitere 187, vor allem Jugendliche dort. Immer weiter werden die Lebensmöglichkeiten der arabischen Bevölkerung dort eingeschränkt. Von der sogenannten Zwei-Staaten-Lösung bleibt so nur eine Fata-Morgana, zur Beruhigung der internationalen Öffentlichkeit. Real entwickelt sich ein Apartheid-Staat, in dem rund vierzig Prozent der Gesamtbevölkerung in einem weitgehend rechtlosen Status leben. Eine Brutstätte für weitere Gewalt-Eruptionen, auf beiden Seiten.
Ein friedliches Zusammenleben in Israel-Palästina wird nur auf der Basis gleicher Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten erreicht werden können. Viele Israelis, die dies verstanden haben und mutig dafür eintreten, wie etwa der bekannte Ha’aretz-Journalist Gideon Levy, appellieren an die internationale Öffentlichkeit, in dieser Richtung auf die israelische Regierung einzuwirken, und auch eine Handelspolitik zu betreiben, die z.B. auf immer massivere Waffenlieferungen in die Konfliktregion verzichtet. Gerade die Bundesrepublik Deutschland hat solche tödlichen Geschäfte 2023 massiv ausgeweitet – aus unserer Sicht der völlig falsche Weg. Solidarität mit Israel sollte nicht auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung geübt werden, und die Unterstützung gewaltsamer Konfrontation nach innen und auch nach außen – gegenüber den Nachbarn etwa im Libanon – ist sicher nicht im langfristigen Interesse der jüdischen Bevölkerung in der Region.
Wenn die westlichen Regierungen verstehen, dass Solidarität mit Israel sich auch in klarer Kritik zeigen kann, dann gibt es vielleicht eine kleine Chance: dass aus der fatalen augenblicklichen Lage in Nahost sich das zarte Pflänzchen von Vernunft, kluger Diplomatie und Abschied von der Gewalt entwickeln kann.