Türkischer Terror gegen Nordostsyrien
Rede von Dr. Michael Wilk bei der Ostermarsch-Abschlusskundgebung am 1.4.2024 in Frankfurt a.M.
Liebe Anwesende, Freundinnen und Freunde,
ich bestelle euch Grüße aus Nordostsyrien, auch bekannt als Rojava.
Ich bin häufig in der Region und unterstütze als Notarzt den kurdischen Roten Halbmond, der einen wesentlichen Anteil am Aufbau eines neuen Gesundheitswesens darstellt.
Bekannt geworden ist die Region Rojava und ihre Menschen vor allem durch den jahrelangen Kampf gegen den Terror des sogenannten Islamischen Staats, eine blutige Auseinandersetzung, die viele Opfer gefordert hat und noch immer andauert.
Umgeben von Krieg und autoritären Systemen, versucht die Bevölkerung Rojavas in dem autonomen, unabhängig vom Assad Regime verwalteten Gebiet, eine Gesellschaft zu etablieren, in der Gleichberechtigung von Mann und Frau, Basisdemokratie und Einbeziehung vielerlei Ethnien und Religionen geübt wird. Anders als in den umgebenden Regionen, wird archaische Männerherrschaft und Despotismus ablehnt und bekämpft.
Sinnvolle Politik zu betreiben hieße, diese Bemühungen zu unterstützen und den Menschen vor dem Hintergrund der Opfer im Kampf gegen den IS, Wertschätzung und (zivile Wiederaufbau) Hilfe zukommen zu lassen. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Region leidet seit Jahren unter einem sogenannten „Krieg niedriger Intensität“. Einem Krieg des türkischen Erdogan Regimes, der zum eigenen Machterhalt, gegen die Autonomiebestrebung der kurdischen und multiethnischen Bevölkerung Rojavas geführt wird. Und der z.Z. wenig beachtet außerhalb des medialen Focus liegt.
Unter Duldung der USA, Russlands und der europäischen Staaten verübt das Erdogan Regime seit Jahren und zu wiederholten Male Kriegsverbrechen. Mehrfach marschierte die Türkei völkerrechtswidrig in Rojava ein, terrorisierte und vertrieb die Bevölkerung- ich wurde bei meinen Aufenthalten immer wieder Augenzeuge von Kriegsverbrechen, ich sah Tote und Verletzte, erlebte wie tausende unter erbärmlichen Umständen zur Flucht gezwungen wurden.
Seit Ende 2023 greifen Kampfflugzeuge und Drohnen der türkischen Armee verstärkt die lebenswichtige Infrastruktur der Region an. Ziel von hunderten Luftangriffen sind Wasser- und Kraftwerke, die Strom- und Energieversorgung, Getreidespeicher, zivile Produktionsstätten wie Mühlen und Olivenölfabriken und auch Gesundheitseinrichtungen. Sie alle werden beschossen und zerstört, -ein Dialysezentrum in Qamislo, -eine ambulante Diabetes Einrichtung in Kobane. Aber auch Menschen werden immer wieder angegriffen, getötet, darunter auch Kinder.
Die Angriffe der Türkei folgen dem Muster eines Krieges niedriger Intensität, sie konzentrieren sich folglich auf die Beschießung einzelner, auch kleinerer Ziele, die Ermordung der Insassen einzelner PKWs, der Zerstörung einzelner wichtiger Anlagenbereiche. Obwohl militärtechnisch weit überlegen, vermeidet die türkische Armee zurzeit massive große Angriffe, die Bombardierung von ganzen Wohnvierteln, oder eine erneute Überschreitung der Grenze mit Panzereinheiten, um keine größere negative Aufmerksamkeit zu wecken.
Dies zeigt Erfolg, denn obwohl sich die Angriffe massiv auf Rojava auswirken, entziehen sie sich der medialen Aufmerksamkeit, die auf den Russland-Angriff, den Terror der Hamas und die gnadenlose Bombardierung Gazas fokussiert ist.
Die aktuellen Angriffe durch das Nato Mitglied Türkei haben massive Auswirkung für die Bevölkerung, v.a. im Bereich der Energie- und der Wasserversorgung. War die Infrastruktur durch frühere türkische Angriffe auf Pumpstationen und die Niedrigregulierung des Euphrat bereits in einem schlechten Zustand, sind nun die Verhältnisse in großen Bereichen katastrophal.
Beim Besuch der Bürgermeisterinnen von Derik und Kobane wurden mir eindrücklich die Not und die Folgen für abertausende Menschen der Regionen geschildert. Die Angriffe durch Kampfflugzeuge und Drohnen, aber auch durch direkten Beschuss über die Grenze hinweg, sind eine permanente unberechenbare Bedrohung. Beide Bürgermeisterinnen beklagen übereinstimmend, neben der Zerstörung ziviler Infrastruktur, vor allem den „steigenden Verlust von Sicherheit“. Sie beschreiben die „Verbreitung von Angst und Schrecken“ als weitere wesentliche negative Auswirkung gegenüber der Bevölkerung.
Nicht selten werden Menschen, die auf den grenznahen Feldern arbeiten, durch Gewehr- oder Granatfeuer verletzt oder getötet. Die forcierten systematischen Angriffe haben jedoch weitaus weniger mit individueller Grausamkeit türkischer Grenztruppen zu tun, als vielmehr mit der Strategie einer nachhaltigen Zermürbung. Ziel der Angriffe ist die Destabilisierung auf materieller, aber vor allem auch auf mentaler Ebene.
Hochfliegende Drohnen sind nicht wahrnehmbar, nichts rettet vor der plötzlich einschlagenden Rakete, sie tötet, verletzt, zerstört. Betroffen sind explizit nicht nur militärische Ziele der Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ, sondern auch zivile Menschen und Einrichtungen. Es kann prinzipiell jeden treffen, immer und überall. Dies verursacht tiefe Unsicherheit und ein Gefühl andauernder Bedrohung. Die so erzeugte Angst ist entscheidender Faktor der Kriegsführung.
Psychische Gesundheit ist laut WHO „ein integraler Bestandteil von Gesundheit und Wohlbefinden und untermauert unsere individuellen und kollektiven Fähigkeiten, Entscheidungen zu treffen, Beziehungen aufzubauen und die Welt, in der wir leben, zu gestalten. Psychische Gesundheit ist ein grundlegendes Menschenrecht.“ Genau hier setzt die Strategie des Erdogan Regimes an. Die Angriffe auf Menschen und zivile Infrastruktur durch das NATO Land Türkei sind Kriegsverbrechen, sie dienen dem Zweck der Verbreitung von Angst und Schrecken, und damit der Untergrabung der mentalen Stabilität. Die unberechenbaren Attacken zielen auf die psychische Verfasstheit und folgen einem erkennbaren Konzept staatlichen Psychoterrors gegenüber der Bevölkerung Nordostsyriens.
Wie meist bei Verbrechen Erdogans schweigen die westlichen Regierungen, nahezu ungestört können Mord und Zerstörung weitergehen.
Es sind die gleichen Regierungen, die 2017 das Ende des IS bejubelten und nun jene vergessen, die dafür die Köpfe hingehalten haben. Vergessen, wer den Kampf gegen den IS führte, die 11.000 toten kurdischen und SDF Kämpfer*innen, die 21.000 schwerverletzten und verstümmelten jungen Menschen, sie können sehen wo sie bleiben. Schwerer als der Respekt vor den Opfern v.a. kurdischer Kämpfer*innen wiegen Abkommen über Geflohene und die NATO Partnerschaft.
Anstatt alles dafür zu tun, die Angriffe zu verhindern und vielmehr endlich massive notwendige Aufbauunterstützung für Nordostsyrien zu leisten, wird die von Seiten der türkischen Regierung beabsichtigte Instabilisierung der Region in Kauf genommen. Ein Fehler, der nicht zuletzt dem im Untergrund lauernden IS weiter mörderische Spielräume eröffnen wird.
Die Rücksichtnahme auf den Potentaten Erdogan und seine Kriegsverbrechen beweist eine unerträgliche Doppelmoral, da vergleichbare Unmenschlichkeit an anderen Fronten zu Recht beklagt und angeprangert wird.
Es zeigt sich auch auf Seiten der Bundesregierung ein eiskalter politischer Zweckpragmatismus, der frei von humanitären Grundsätzen in reaktionärer Gemeinschaft zunehmend Geflohene politisch-populistisch negativ bewertet, ausgegrenzt und auch dem Tod überantwortet. Während zeitgleich ein Erdogan-Regime ungestraft Ursachen für Flucht und Vertreibung schafft.
Die hochgepriesenen humanitären Ansprüche Europas, incl. der von der Außenministerin Baerbock postulierten „feministischen Außenpolitik“, entpuppen sich in Nordostsyrien als moralisch-ethisches Totalversagen, als zynische Lippenbekenntnisse ohne Wert.
Hier sind wir gefordert, mit Aufklärung, Druck und Widerstand. Es gilt einmal mehr: Fluchtursachen bekämpfen – nicht die Geflohenen!
Um Fluchtursachen zu bekämpfen, ist ein Paradigmenwechsel der Politik notwendig. Die Türkei erhält Milliardenbeträge zur Regulierung von Geflohenen- während das Erdogan –Regime weiter Menschen in die Flucht schlägt. Erdogans Verbrechen müssen endlich als solche benannt und geahndet werden.