Rede von Michael Müller in Wiesbaden / Mainz-Kastel am 31.8.
Liebe Freunde der Aufklärung und Vernunft!
Heute, im Jubiläumsjahr von Immanuel Kant, dem großen Vordenker von Aufklärung und Vernunft, will ich die Friedensbewegung so nennen, wie das Kant getan hätte. Kant hat in seinen Arbeiten zum Prinzip Verantwortung von den Menschen Mut zur Mündigkeit gefordert und die Prinzipien eines ewigen Friedens beschrieben. Das ist das, was die Friedensbewegung auszeichnet: Wir sagen Nein zu dem Konformismus, der heute in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung zum Ukraine-Krieg vorherrscht.
Noch besser beschrieben ist diese kurzsichtige und einseitige Meinungsmache als „Kriegskonformismus“. Wir sagen Nein, Nein zu der Militarisierung des Denkens. Deshalb vielen Dank den Veranstaltern und vor allem Euch, dass Ihr hier seid, um ein Zeichen für den Frieden zu setzen. Es ist eine geschichtslose Dummheit, die Friedensbewegung als „Putins 5. Kolone“ zu diffamieren, mehr noch: die bellizistische Remedur, die wir heute erleben, ist eine gefährliche Entgleisung der deutschen und europäischen Politik. Egon Bahr würde wahrscheinlich von einer Krise des Gehirns sprechen.
Die Friedensaktivisten Hermann Theisen und Helmut Donat haben sich die Mühe gemacht, vom Kriegsbeginn im Februar bis zum Ende des Jahres 2022 die Talkshows, Kommentierungen, Gesprächsrunden und den Presseclub im 1. und 2. Deutschen Fernsehen auszuwerten. Das Ergebnis ist erschreckend: Über 90 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer vertraten eine kriegstreibende Position. Wir fragen: Haben die öffentlich-rechtlichen Anstalten nicht die Pflicht, die Breite der Meinungen wiederzugeben? Und vertritt nicht die Mehrheit der Bevölkerung trotz der lauten Kriegstrommeln dieser „Sicherheitsexperten“ eine zurückhaltende bis ablehnende Haltung zu Waffenlieferungen?
Die bellizistische Remedur begann im September 2013 mit einem Manifest der Stiftung Wissenschaft und Politik, an dessen Erarbeitung ca. 50 „Sicherheitspolitiker“ (meine Anführungszeichen bitte mithören) beteiligt waren. Die zentrale Botschaft heißt: Wenn Deutschland seine Freiheit und seinen Lebensstil bewahren will, muss es aufrüsten und auch bereit sein, sich an Kriegen zu beteiligen. Deshalb müsse unser Land militärische Verantwortung übernehmen. Der unvermeidliche Herr Masala nennt das „Deutschland müsse erwachsen werden“.
Nach diesem Drehbuch steht die Öffentlichkeit seitdem unter einem ständigen Trommelfeuer. Die falschen Botschaften kommen vor allem von der jährlichen Münchner Sicherheitskonferenz. Den Anfang machte 2014 Joachim Gauck, der als erster Bundespräsident dort redete und mehr Geld für die Aufrüstung und eine stärkere Rolle Deutschlands in der Nato forderte, ihm folgten Bundesverteidigungsministerin von der Leyen und Außenminister Steinmeier. Damals noch etwas verschroben, aber seitdem immer deutlicher: Deutschland müsse, wie Verteidigungsminister Boris Pistorius es heute nennt, „kriegstüchtig“ werden. In unserem Grundgesetz steht „Verteidigung“ und nicht „Angriff“.
Welche Verantwortung ist gemeint? Aufzurüsten, um Kriege zu führen. Und das im Atomzeitalter? Wir, die Friedensbewegung, wollen Verantwortung übernehmen. Aber das ist das Gegenteil der Militarisierung der Welt. Wir wollen das, was die UNO in den 1980er Jahren für eine Weltinnenpolitik entwickelt hat: Nord-Süd-Solidarität, Gemeinsame Sicherheit und Nachhaltigkeit. Das ist das Gegenteil von Aufrüstung und Ausgrenzung, die heute vorherrschen.
Ich erinnere angesichts der Gefahr eines großen Krieges, der sich in der Ukraine entwickeln kann, an Willy Brandt. Am 22. August 1968 verurteilte der damalige Bundesaußenminister, der sein Geschäft als oberster Diplomat unseres Landes noch verstand, den Einmarsch von Warschauer Pakt-Truppen, um den Prager Frühling niederzuschlagen, als „Akt der Willkür“. Aber er betonte auch, dass gerade deshalb alles getan werden muss, „den Frieden sicherer zu machen und einer europäischen Friedensordnung den Weg zu ebnen. Das ist gerade dann wichtig, wenn andere sich dem entziehen wollen“.
Ja, bei Bertha von Suttner hieß das: „Einen Öl-Brand kann man nicht mit Öl löschen“. Doch seit 2014 heißte es „Aufrüsten“. In unserem Land sind die Militärausgaben seitdem von 32,5 Mrd. Euro auf heute 71 Mrd. Euro angestiegen. Wir wollen nicht, dass die Nato zum Oberbefehlshaber der Politik der EU wird. Wir wollen keine Nato, die zurück in den Kalten Krieg führt. Deshalb noch einmal: Wir sagen Nein zu dem Kriegskonformismus in den Medien und der Öffentlichkeit.
Wir sagen Nein zur Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine. Was hat das mit einer angeblich werteorientierten Außenpolitik zu tun, wenn Boris Johnson, der damalige britische Premier, Ende März 2022 eine weitgehende Einigung zwischen Russland und der Ukraine für einen Waffenstillstand gestoppt hat. Wieviel Leid, Tod und Verstümmelung von Menschen hätte verhindert werden können? Das ist verantwortungslos.
Wir sagen Nein zur Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Man muss hinzufügen: Nur in Deutschland Raketen, die konventionell oder atomar bestückt werden können. Das ist eine Entmündigung unseres Landes, denn nur der amerikanische Präsident entscheidet über den Einsatz. Es ist ein politischer Skandal, dass eine solche Zustimmung ohne parlamentarische Beteiligung und ohne öffentliche Debatte getroffen wurde. Dabei findet in den neun Atommächten eine atomare Aufrüstung statt. Allein die USA haben 2022 rd. 45 Mrd. Euro für neue Atomwaffen ausgegeben. Ist das Verantwortung, wenn die Gefahr eines Atomschlags wächst?
Die Stationierung der Mittelstreckenraketen ist genauso falsch wie die Einrichtung der Task Force Domain hier in Wiesbaden ohne Beratung im Bundestag. Auch hier war der Ukraine-Krieg der Anlass, diese Leitstelle für Kriegsführung einzurichten. Geplant war sie – genauso wie vier weitere – schon vor dem Krieg.
Und immer wird die Demokratie geschwächt. Früher wurde angeblich die Freiheit am Hindukusch verteidigt, jetzt angeblich in der Ukraine. Das war Unsinn und ist Unsinn. Die Wirklichkeit ist: Die Freiheit wird im Krieg eingeschränkt, der demokratische Diskurs ist gefährdet.
Wir sagen Nein zu der neuen Mauer in Europa. Eine Mauer in einer Zeit, in der wir neue Gemeinsamkeit brauchen. Wie soll sonst die globale Klimakrise bewältigt werden. Auf keinen Fall durch Hochrüstung. Es ist pervers: Die 2 Prozent des BIP für das Militär eingesetzt für den Klimaschutz würde ausreichen, die Erwärmung unter zwei Grad zu halten. Die erste Schlacht wurde schon verloren, nämlich das 1,5 Grad-Ziel. Die Erhöhung liegt bereits bei 1,66 Grad.
Die Klimakrise ist die größte Gefahr und Herausforderung der Zukunft. Sie wird die Verteilungskämpfe massiv verschärfen und macht Kriege denkbar. Kriege um vermeintliche grüne Oasen des Wohlstands gegen eine unwirtlich werdende Welt.
Die Friedensbewegung will eine Welt der globalen Solidarität, der Gemeinsamen Sicherheit und der Nachhaltigkeit. Das ist unsere Zeitenwende, die notwendige und richtige Zeitenwende.